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Herr Lenke, warum braucht es den Sozialstaat? Bundeskanzler Friedrich Merz hat gesagt, das derzeitige System sei zu teuer.
Hans-Joachim Lenke: Ich bin der Überzeugung, dass jede Investition in die soziale Infrastruktur eine Investition in eine demokratische, starke und positive Zukunft ist. Ein starker Sozialstaat schützt die Menschen bei Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit. Jeder Bürger und jede Bürgerin kann sich auf eine soziale Absicherung im Notfall verlassen. Und das ist gut und schützenswert. Denn das schafft Vertrauen und zeigt: Du wirst nicht alleingelassen. Merz’ Aussage, der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, sei mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar, greift deutlich zu kurz und ist viel zu pauschal. Der Sozialstaat ist längst nicht nur ein Kostenfaktor, an dem man beliebig herumschrauben und kürzen kann.
Aber wie soll der Sozialstaat finanziert werden?
Lenke: Dass in Zeiten knapper Kassen über die Finanzierung des Sozialstaates gesprochen werden muss, ist selbstverständlich. Aber es gibt durchaus Möglichkeiten. Dazu gehören für mich das konsequente Stopfen von Steuerschlupflöchern und eine ebensolche Verfolgung bei Steuerhinterziehung. Allein durch Steuerhinterziehung verliert der Staat jährlich zwischen 75 und 120 Milliarden Euro an Steuergeldern. Genauso wäre die Einführung einer Vermögenssteuer ein Finanzierungsbaustein, den man ernsthaft diskutieren müsste. Stattdessen werden derzeit jedoch meist nur Sparmaßnahmen diskutiert, die auf Kosten der Allgemeinheit gehen, wie Karenztage im Krankheitsfall oder die Kontaktgebühr für Arztbesuche. Es ist auch ein fatales Signal, wenn Politiker vermitteln, jeder, der Bürgergeld bezieht, ist faul und verweigert sich der Arbeit. Es gibt einen nicht unerheblichen Anteil an Familien, in dem ein Vollzeitjob schlicht nicht ausreicht, um das tägliche Leben zu bezahlen.
Wo sehen Sie ansonsten Handlungsbedarf?
Lenke: Es braucht im Bereich der Sozialleistungen Strukturreformen. Viele der Leistungen müssen an unterschiedlichen Stellen beantragt werden, hier herrscht ein bürokratisches Wirrwarr, das dringend neu strukturiert und dann auch digitalisiert werden müsste. Ein entschlacktes System hätte Vorteile für beide Seiten. Denn das Geld, das bis jetzt in die Bürokratie fließt, könnte dort eingesetzt werden, wo es eigentlich eingesetzt werden sollte: Bei den Menschen, die die Unterstützung dringend benötigen. Wir brauchen dafür aber endlich eine parteiübergreifende Diskussion, die der Sache gerecht wird und frei ist von ideologischer Aufladung.
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