Frau Sinnemann, die Kampagne heißt „Für alle – mit Herz und Verstand“. Wie kann eine Wahl, bei der unterschiedlichste Parteien unterschiedlichste Interessen vertreten, für alle sein?
Maria Sinnemann: Das ist eine spannende Frage. Mit ihrem Titel „Für alle.“ macht die Kampagne darauf aufmerksam, dass unsere christlichen Kernwerte Menschenwürde, Zusammenhalt und Nächstenliebe für alle Menschen gelten. Ohne Ausnahme. Was sich einfach anhört, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, sondern wird bei dieser Bundestagswahl durch populistische Strategien und extremistische Einstellungen gezielt in Frage gestellt. Deshalb ist es wichtig, dass wir auf unser Herz und unseren Verstand hören, wenn wir in den nächsten Wochen kontrovers miteinander debattieren, Kompromisse suchen und dann am Ende eine Wahlentscheidung treffen.
Mich persönlich erinnert der Titel auch daran, dass meine Wahlentscheidung nicht nur meinem eigenen Wohl dienen sollte. Ich versuche deshalb, mich in die Perspektive von anderen Menschen zu versetzen. Zum Beispiel von Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht wählen können. Menschen, die aufgrund ihres Berufs eine ganz andere Lebensrealität als ich haben. Oder Menschen, die noch sehr jung sind und für die wir die Schöpfung bewahren müssen. Ich weiß zwar, dass es bei Wahlen kein ‚perfect match‘ gibt. Trotzdem hoffe ich, mit diesen Perspektivwechseln eine Entscheidung zu treffen, die zu guten politischen Lösungen für unsere gesamte Gesellschaft führt.
Die Kampagne wirbt nicht für eine bestimmte Partei, sondern für Demokratie. Das klingt etwas abstrakt – was bedeutet Demokratie konkret, vielleicht auch bei mir im Alltag?
Sinnemann: Auch für mich sind viele Begriffe im aktuellen politischen Diskurs sehr schwammig. Was meinen wir zum Beispiel genau, wenn wir von der Stärkung unseres Zusammenhalts oder von Wohlstand und Leistung reden? Ich finde die Kampagne gerade deshalb toll, weil sie beim Thema Demokratie nicht abstrakt bleibt. Stattdessen ruft sie klar dazu auf, demokratische Strukturen vor Ort zu stärken und sich mit Herz und Verstand an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Was bedeutet das konkret? Als Erstes fallen mir natürlich Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen ein. Nach der Bundestagswahl 2025 finden im nächsten Jahr in Niedersachsen die Kommunalwahlen statt. Ich denke, dass die Kirchen auch hier wichtige Impulse geben können. Außerdem gehören zur Demokratie vor Ort alltägliche Diskussionen, zivilgesellschaftliches Engagement oder Bildungsangebote für alle Altersgruppen. Unser politisches System ermöglicht an vielen unterschiedlichen Stellen Teilhabe und ist darauf angewiesen, dass wir dieses Recht auch wahrnehmen. Insofern ist die Kampagne zwar vor allem an der Bundestagswahl in diesem Jahr orientiert. Sie reicht in ihrer Wirkung aber hoffentlich weit darüber hinaus.
Plakate und Banner sind das eine, aber wie können Gemeinden in ihrer Arbeit vor Ort zu einer Stärkung von Demokratie beitragen? Was können Gemeinden dazu beitragen, die Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen?
Sinnemann: Ich glaube, dass Gemeinden heute schon ganz viel zur Stärkung der Demokratie beitragen. Manchmal ist es ihnen das vielleicht selbst nicht bewusst. Im Gespräch mit Politikerinnen oder Politikern oder Personen aus der Verwaltung fällt mir aber häufig auf, dass sie die Kirchengemeinden als wichtige Partnerinnen und Partner für ein funktionierendes Gemeinwesen nennen.
Darüber hinaus fallen mir drei Ideen zur Stärkung der Demokratie vor Ort ein: Passend zur Kampagne „Für alle.“ ist es wichtig, immer deutlich zu machen, wofür wir stehen. Unsere Demokratie ist darauf angewiesen, dass ihre Grundwerte gesellschaftlich fest verankert sind. Menschenwürde, Zusammenhalt und Nächstenliebe sind dafür ein fester Grund.
Zweitens kann es hilfreich sein, sich die eigenen demokratischen Strukturen, zum Beispiel in der Jugendarbeit oder im Kirchenvorstand, anzuschauen. Gemeinsam kann man zum Beispiel überlegen, ob es noch Verbesserungspotenzial bei der Einbindung von Menschen und Bevölkerungsgruppen gibt, die bisher kaum an unseren Angeboten teilhaben.
Außerdem ist es gut, lokale und regionale Bündnisse zum Beispiel mit zivilgesellschaftlichen Partnern aufzubauen und zu pflegen. Letztes Jahr um diese Zeit haben sehr viele Menschen gemeinsam für ein demokratisches, solidarisches und gerechtes Miteinander in unserer Gesellschaft demonstriert. Vielleicht ist nun ein guter Zeitpunkt, um Kontakte, die damals entstanden sind, wieder aufzufrischen und sich neue Projekte zu überlegen?
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